Ein Blickwechsel –
Vom Gehege ins Publikum. Tier-Mensch-Beziehungen bei Menzel, Slevogt und in Madagascar
Ein Zebra träumt von Freiheit, ein Hirsch blickt aus dem Gehege, ein Tiger sitzt hinter Gittern – vom Animationsfilm Madagascar bis zu den Tierdarstellungen der Moderne zeigt sich, wie eng die Blicke von Mensch und Tier miteinander verwoben sind. Der „Blickwechsel“ zwischen Gehege und Publikum offenbart, wie Kunst und Popkultur unsere Wahrnehmung von Tieren und ihrer Haltung hinterfragen.
DARIA REBRIYEV
Wenn Tiere träumen – Zoo, Freiheit und Projektion in Madagasca
Zu Beginn des Films Madagascar (DreamWorks, 2005) galoppiert das animierte Zebra Marty in Zeitlupe durch eine Savanne. Das goldene Licht der Sonne durchflutet die Weite der afrikanischen Landschaft und verleiht Marty ein Gefühl von Schwerelosigkeit und Freiheit. Ein epischer Chor im Hintergrund erhebt die Szene zu einer überirdischen Fantasie, in der Marty euphorisch und unaufhaltsam auf die Sonne zuläuft. Die engelsgleichen Stimmen des Chors stammen von einer Gruppe Pinguine, die Marty den Weg frei machen, indem sie in die Höhe fliegen. Diese idealisierte Vorstellung der Wildnis endet jedoch abrupt, als Alex, der Löwe, Martys bester Freund, den Tagtraum durchbricht, und ihn zu seinem Geburtstag gratuliert.1 Martys befreiter Ritt war nur Teil eines Tagtraums, der von dem Bild einer idealisierten afrikanischen Landschaft – einer romantisierten Vorstellung von „Wildnis“ – auf einer Mosaikwand seines Geheges angeregt wurde. Sie begleitet ihn Tag ein Tag aus und das bereits seit 10 Jahren.2 Während Marty darüber nachdenkt, aus dem Zoo auszubüxen, um die „wahre Welt“ zu erleben, können seine Freunde – Gloria, das Nilpferd, Melman, die Giraffe und Alex, der Löwen – diesen Wunsch nicht nachvollziehen. Ihnen gefällt das Leben im Zoo.3
Der Animationsfilm Madagascar wirft so die Frage auf, wie sich das, was wir bei Tieren im Zoo sehen, zu dem verhält, was die Tiere selbst sehen. Der Blickwechsel zwischen Mensch und Tier wird dabei narrativ für die Zuschauer*innen kommentiert. Indem Alex das Leben im Zoo glorifiziert und Martys Freiheitsdrang belächelt, karikiert der Film zugleich jene Argumente, mit denen Zoos sich traditionell legitimieren – als Orte des Schutzes, der Versorgung und des tierischen Glücks.
Filmstill aus: Eric Darnell, Tom McGrath: Madagascar, USA 2005, 00:16:05
Adolph Menzel: Der Mensch im Gehege
Eine ähnliche, aber subtilere kritische Auseinandersetzung mit Zoos und der Tierhaltung finden wir auch in modernen Kunstwerken von Adolph Menzel und Max Slevogt wieder. Ihre Werke adressieren das Blickverhältnis von Mensch und Tier, indem sie dazu anregen, darüber nachzudenken, wer wen betrachtet. Während Menzel die Perspektive aus dem Gehege der Tiere auf das Publikum darstellt, rücken bei Slevogt die Gitterstäbe in den Vordergrund. Eine wichtige Rolle spielt dabei unsere physische Positionierung: Während bei Slevogt das Gitter den Blick der Betrachter*innen wie auch der Tiere bestimmt, setzt uns Menzel mitten ins Gehege.
Im Kinderalbum, an dem er von 1863 bis 1883 arbeitete, malte Menzel 44 kleinformatige Gouachen, die den Kindern seiner Schwester gewidmet waren.4 Obwohl das Kinderalbum größtenteils Tiere des eigenen Hofes oder des Gartenrestaurants Albrechtshof abbildete, lassen sich ebenso Zeichnungen von „exotischen“ Tieren finden, die er im Zoologischen Garten in Berlin beobachtet hatte.5 In dem Werk Damwild im Gehege kommentiert Menzel deutlich die Beziehung zwischen Menschen und Tieren. Der Betrachterstandpunkt liegt dabei innerhalb des Geheges und ermöglicht uns das Hineinversetzen in die Perspektive der abgebildeten Tiere.
Abgebildet wird ein Gehege mit drei Tieren. Zwei weibliche Hirschkühe stehen links unter dem Schatten eines Baumes, während sich der Hirsch am rechten Gitter dem Publikum zuwendet. Durch den großen Abstand der Stäbe ist es dem Publikum möglich, die Tiere zu berühren. Diese Gelegenheit nutzt ein Junge aus, der seinen Arm durchs Gitter streckt, um den Rücken des Hirsches zu streicheln. An seinem Gesicht wird der Hirsch ebenfalls berührt, jedoch nicht von neugierigen Händen, sondern von zwei Spazierstöcken, die mit ihren Spitzen silbern aufglänzen. Das Tier wird so vom Publikum traktiert. Eine der Hirschkühe blickt auf uns als Betrachter*innen zurück. Ihre Nähe und die Berührung ihres Blicks schaffen eine Brücke zwischen Tier und Mensch. Der Bildraum wirkt dadurch nicht abgeschlossen, sondern wie ein Appell an uns, mitzufühlen. Mit diesem Werk ermöglicht Menzel seinem Publikum, sich in die Tiere hineinzuversetzen. Die Betrachter*innen werden in eine physische Beziehung zur Szene gebracht, wodurch sie das Verhalten des Publikums und die Lebenssituation der Tiere reflektieren sollen.6
Adolph Menzel, Damwild im Gehege, aus dem „Kinderalbum“, 1863, Aquarell und Gouache auf Papier, bpk / Kupferstichkabinett, SMB / Jörg P. Anders
Hinter Gittern – Der Käfig als Bildmotiv bei Max Slevogt
Max Slevogt unterstreicht die Gefangenschaft der Tiere, indem er das Motiv des Käfigs hervorhebt, dessen Präsenz im Bild für eine bedrängende und düstere Wirkung sorgt. Der Löwe in Slevogts Mädchen vor dem Löwenkäfig wirkt hinter den Gitterstäben apathisch und unbeweglich. Das Mädchen, das vor dem Käfig steht, trägt einen roten langen Rock, der sich von der Farbgebung des Hintergrunds abhebt, eine weiße Bluse und einen schwarzen Hut auf ihren langen braunen Haaren, die sie offen trägt. Die Kleider scheinen mit Leichtigkeit auf dem Körper aufzuliegen und vermitteln einen Eindruck von Unbeschwertheit, der im Kontrast zum düsteren und starren Käfig des Löwen steht. Die Szenerie um den Käfig herum offenbart breite Spazierwege durch die grüne Anlage des Zoos. Die künstlich angelegte Natur dient den Zoo-Besucher*innen, nicht den Tieren. Der Löwe im Käfig ist umgeben von düsteren Farbtönen und dicht aneinander gereihten Gitterstäben. Dem Löwen bleibt nur ein beschränktes Blickfeld. Simon Kleinert bemerkt in seinem Beitrag zum Ausstellungskatalog, dass Gitter negative Assoziationen hervorrufen und damit die Ungerechtigkeit der Haltung der Tiere unterstreichen.7
Max Slevogt, Mädchen vor dem Löwenkäfig, 1901, Öl auf Leinwand, Niedersächsisches Landesmuseum Hannover
Wenn die Bären zurückblicken – Empathie und Perspektive bei Menzel
Eine interessante Perspektive dazu bietet Menzels Drei Bären im Käfig. In diesem Werk befinden sich nicht die Bären im Schatten, sondern die betrachtende Person. Wir treffen auf die Blicke zweier Bären, die sich vor dem Gitter ihres Bärengrabens dicht aneinander gedrängt haben. Der Bildraum des Werkes ist durch den Fensterbogen des Käfigs gerahmt, wodurch wir den Eindruck bekommen, unmittelbar vor den Bären zu stehen. Was uns von ihnen trennt, sind Gitterstäbe, die von den Tatzen der Bären umfasst oder überwunden werden und in den Raum der Betrachtenden eindringen. Der linke Bär schaut traurig zur betrachtenden Person auf, während der rechte Bär in eine Gitterstange zu beißen scheint und dabei seine Zähne zeigt. Hiermit findet eine weitere Verkehrung des Blicks statt: Es entsteht der Eindruck, als würden wir uns hinter dem Gitter befinden und von den Bären beobachtet.8 Gleichzeitig imitieren die Bären das menschliche Publikum. Sie treten nah an das Gitter heran und überschreiten die Grenze. Zugleich wecken sie Mitgefühl in Betrachter*innen, indem diese durch die Bildkomposition auf die beengte Haltung der großen Tiere im Käfig aufmerksam gemacht werden.
Die Positionierung der Menschen ist somit nicht irrelevant. Sie ermöglicht es dem Menschen, die Perspektive der Tiere einzunehmen, oder zumindest Empathie zu entwickeln. Der Film Madagascar setzt die Menschen in eine ähnliche Position.9 Er lädt seine Zuschauer dazu ein, ähnlich wie die Kunstwerke der Moderne das menschliche Handeln zu hinterfragen und einen Blickwechsel zu erfahren. Ob Adolph Menzel und Max Slevogt eine kritische Rezeption der Tierhaltung in Zoos beabsichtigt haben, lässt sich nicht eindeutig sagen, jedoch bieten sie differenzierte Einblicke in die Wahrnehmung von Tieren im 19. Jahrhundert.
Adolph Menzel, Drei Bären im Käfig, aus dem „Kinderalbum“, 1863–1883, Gouache auf Papier, 20,7 x 24 cm, Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin
Eric Darnell, Tom McGrath (Reg.): Madagascar, USA 2005, 00:00:26-00:03:15.
Ebd., 00:13:33-00:13:55.
Ebd., 00:11:20-00:11:54.
Vgl. Von Menzel, Adolph: Das Kinderalbum, Reproduktion der Staatlichen Museen zu Berlin/DDR, Berlin 1986, o.S.
Vgl. Von Menzel, Adolph: Das Kinderalbum, Berlin 1986, o.S.; Vgl. Fried, Micheal: Menzels Realismus. Kunst und Verkörperung im Berlin des 19. Jahrhunderts, übers. von Heinz Jatho (Original: Menzel´s Realism. Art and Embodiment in Nineteenth-Century Berlin, New Haven; London, 2002) München 2008, S. 137f.
Vgl. Fried 2008, S. 136.
Vgl. Kleinert, Simon: Konservierung versus Tierrechte, in: Chichester, K. Lee; Keilholz-Busch, Jessica (Hg.): Die Moderne im Zoo (Ausst.-Kat. Franz Marc Museum, Kochel a.S.), München 2025, S. 180.
Vgl. Busch, Werner: Adolph Menzels „Kinderalbum“ als Ort des Unkonventionellen, in: Schulze Altcappenberg, Hein-Thomas; Pfäfflin, Anna Marie (Hg.): Romantik und Moderne. Zeichnung als Kunstform von Caspar David Friedrich bis Vincent van Gogh, Berlin 2016, S. 52-59, hier S. 57.
Vgl. Mills, Brett: “Out There, in the World.” Representations of the Zoo and Other Spaces in the Madagascar Trilogy, in: Micheal Lawrence und Karen Lury (Hg.): The Zoo and Screen Media. Images of Exhibition and Encounter, New York 2016, S. 137-152, hier S. 142.
Diese Story entstanden im Rahmen des Seminars „Die Moderne im Zoo. Exotismus, Ethik und Evolution um 1900“ an der Ruhr-Universität Bochum. Sie wurden von Studierenden erarbeitet.
Das Seminar wurde durchgeführt von Dr. K. Lee Chichester und Jessica Keilholz-Busch.