Am Käfig mit dem Tigerlöwen –
Oskar Kokoschka und das Bild des Tieres

Oskar Kokoschka, Tigerlöwe, 1926
Früh am Morgen, noch vor der Öffnung des Zoos, wartet Oskar Kokoschka mit seiner Staffelei vor dem Gitter des Raubtiergeheges. Es ist still. Plötzlich bricht ein gelbes Wesen aus der Dunkelheit – ein Sprung, ein Fauchen, ein stechender Blick. Der Tigerlöwe stürzt sich gegen die Eisenstäbe. Für Kokoschka ein Moment absoluter Präsenz und eine Begegnung, die sich in Farbe, Form und Energie in sein Gemälde einschreibt.
JESSICA KEILHOLZ-BUSCH
Ein Mischwesen als Sensation
Der sogenannte Tigerlöwe, eine Kreuzung aus Tiger und Löwe, war in den 1920er-Jahren die Hauptattraktion des Londoner Regent’s Park Zoos. Das Tier, zugleich vertraut und fremd, vereinte zwei der eindrucksvollsten Großkatzenarten in einem Körper. Kokoschka war von diesem Hybridwesen fasziniert. Er erwirkte eine Sondermalerlaubnis und durfte sich dem Käfig bis auf wenige Meter nähern. Kokoschka berichtet, wie das Tier »wie eine flammende, gelbe Bombe«1 aus dem Dunkel ins Licht auf ihn zusprang, als wolle es ihn zerreißen. Diese bedrohlich scheinende Konfrontation prägte das Bild.
Wildheit als Bildsprache
In Kokoschkas Tigerlöwe pulsiert die Spannung zwischen Raubtier und Betrachter. Der Kopf der Katze füllt fast das gesamte Bild. Das Maul geöffnet, der Blick starr. Das Tier scheint nicht gefangen, sondern kurz davor auszubrechen. Farbe und Form sind roh, fast eruptiv aufgetragen. Das Gemälde ist kein naturgetreues Porträt, sondern ein emotionales Statement: eine Explosion von Wildheit.
Diese Darstellung steht exemplarisch für eine Entwicklung in der Kunst der Moderne. Tiere, insbesondere nicht-europäische Arten, wurden zum Katalysator formaler Befreiung. In ihrer körperlichen Kraft, ihrem unberechenbaren Ausdruck, sahen viele Künstler:innen eine Gegenwelt zur zivilisierten, technisierten Moderne.
Hybride Körper –
Zwischen Projektion und Befreiung
Der Tigerlöwe ist mehr als ein zoologisches Kuriosum. Die Darstellung des Hybridwesens steht – biologisch wie symbolisch – für Grenzüberschreitungen. Für Kokoschka war die Raubkatze eine Projektionsfläche für das Ungezügelte, Unvermittelte, ein Echo auf das, was in der Moderne verdrängt wurde.
Es zeigt sich: Tiere erscheinen hier nicht nur als Wesen unter Beobachtung, sondern als Spiegel und Gegenbild. Sie fordern heraus, verunsichern, entgrenzen. Gerade im Zoo als inszenierter Ort, an dem das Fremde zur Schau gestellt wird, schwingen Fragen von Macht, Repräsentation und Projektion mit.

Oskar Kokoschka, Der Mandrill, 1926, Museum Bojmanns van Beuningen

Oskar Kokoschka, 1926
Tiere als Ausdruckskörper der Moderne
Parallel zu Franz Marc kommt es auch bei Kokoschka zu Verschiebungen im Rahmen des Tierbildes: weg von der Idylle, hin zur Ambivalenz. Tiere sind nicht länger nur Metaphern für Natürlichkeit, sondern Träger innerer Zustände, Symbole kultureller Umbrüche oder auch Vorboten politischer Konflikte. In ihrer Darstellung schwingt immer auch ein Verhältnis zum Menschen mit: Wer schaut? Wer wird betrachtet? Wer ist frei und wer nicht?
Als ich ihn malte, sah ich: das ist ein wilder, isolierter Kerl, fast wie ein Spiegelbild von mir.
– Oskar Kokoschka
Diese Worte beziehen sich auf Kokoschkas Porträt eines Mandrills, jenes eigentümlich buntgesichtigen Affen, den der Künstler nicht zoologisch, sondern seelisch erfasste. Der Mandrill wird zum Gegenüber – verletzlich, zornig, unverstanden. Die expressive Darstellung betont nicht seine Fremdheit, sondern eine innere Verwandtschaft im Ausgestoßensein. Kokoschkas Tierbild ist weniger Tierstudie als Selbstbefragung, eine Projektion und zugleich eine Auseinandersetzung mit existenzieller Isolation.
Wildnis als Inszenierung
So unmittelbar Kokoschkas Schilderung seiner Begegnung mit dem Tigerlöwen auch wirkt – der Moment am Gitter, das Fauchen der Raubkatze, der Sprung ins Licht –, so stark ist auch die Inszenierung, die diesem Erlebnis zugrunde liegt. Der berühmte Tigerlöwe, dem Kokoschka gegenüberstand, war kein »wildes« Tier im klassischen Sinn. Er war das Ergebnis einer gezielten Kreuzung, vermutlich in der Menagerie eines indischen Maharadschas geboren und 1924 als Geschenk an den Londoner Zoo übergeben. Die Wildheit, die Kokoschka ins Bild bannte, war damit, wie viele Zooerfahrungen, bereits kulturell überformt, durch Zäune gezähmt und für den urbanen Blick vorbereitet.2
Gerade in der modernen Kunst wurden solche Tiere, oft apathisch im Käfig liegend, wieder energetisch aufgeladen durch expressive Formen, grelle Farben, kraftvolle Kompositionen. Die Bilder gaben den Tieren jene Unmittelbarkeit zurück, die ihnen in der Realität längst abhandengekommen war. Die Wiederbelebung der »Wildnis« geschah im Bild, nicht im Gehege.
Diese Spannung zwischen Beobachtung und Konstruktion, zwischen Projektion und Realität, durchzieht nahezu sämtliche Tierdarstellungen der Moderne. Und sie verweist auf die kolonialen Machtverhältnisse, in denen Tiere (wie auch Menschen) als das »Andere« ausgestellt, klassifiziert und ästhetisch vereinnahmt wurden. Dass Franz Marc in seinem ersten Text für den Almanach Der Blaue Reiter die künstlerische Erneuerung mit der »Eroberung einer Kolonie«3 vergleicht, mag unfreiwillig entlarvend sein und doch steht diese Einschätzung exemplarisch für das widersprüchliche Verhältnis zur »Natur« in der Moderne: zwischen Sehnsucht, Aneignung und Distanz.4