Zwischen Idylle und Unheil – Franz Marcs Reise nach Tirol

Ein gelbes Pferd steht in einer bunten, abstrakten Landschaft mit roten und blauen Gebäuden, grünen Hügeln, einem Regenbogen und stilisierten Bäumen unter einem rosa und blauen Himmel. Das Gemälde verwendet kräftige, ausdrucksstarke Pinselstriche.

Franz Marc, Das lange gelbe Pferd, 1913, Sammlung Ken und Julie Moelis

Ein einzelnes Pferd. Leuchtend gelb. Gespannt wie ein Bogen, auf einem Weg, der ins Nichts führt. Im Hintergrund: ein Stall. Kein Mensch weit und breit. Was wie eine stille Landschaft wirkt, erzählt in Wirklichkeit von Auflösung und Erwartung.

JESSICA KEILHOLZ-BUSCH
Frühjahr 1913:
Eine Reise in eine andere Welt

Im Frühling 1913 reist Franz Marc mit seiner Partnerin Maria Franck von Sindelsdorf ins südliche Tirol. Sie besuchen Marias Vater im Sanatorium in Meran. Doch für Marc wird die Fahrt zu einer tiefgreifenden Erfahrung. Den Brennerpass überquerend öffnet sich ihm eine neue Landschaft: das Karwendelgebirge, wilde Täler, hohe Berge. Ein Naturraum, der ihn nachhaltig beeindruckt.

Marc ist fasziniert von dieser alpinen Welt. In seinen Skizzenbüchern hält er Eindrücke fest – nicht naturalistisch, sondern als rhythmische Linien, farbliche Impulse, innere Zustände. Zurück im Atelier verarbeitet er die Reise in mehreren Werken, die heute zu den bedeutendsten seiner späten Schaffensphase gehören.

 

Das lange gelbe Pferd
Zeichen einer unsicheren Zeit

In Das lange gelbe Pferd (1913) wird die Landschaft zur Bühne, das Tier zum Sinnbild. Ein einzelnes Pferd steht angespannt auf einem Weg, eingerahmt von Gelbtönen und einer menschenleeren Architektur.

Die Komposition wirkt klar und doch beunruhigend: Wurde das Tier gerade zurückgelassen? Wartet es auf etwas?

Das Pferd war für Marc lange ein zentrales Motiv. Es stand für Reinheit, Bewegung, inneres Leben. Doch 1913 kippt diese Symbolik. Die Tiergestalt erscheint nun fragiler, isolierter. Das lange gelbe Pferd strahlt Ambivalenz aus, zwischen Hoffnung und Erstarrung, zwischen Aufbruch und Auflösung. Es ist ein Übergangswerk – formal wie inhaltlich.

Bunte abstrakte Landschaft mit zerklüfteten Bergen, weißen und roten Gebäuden, zwei dunklen Pferden, einem fliegenden Vogel, einem Regenbogen und einer Uhr auf einer Stange. Die Szene ist in kräftigen, lebhaften Pinselstrichen gemalt.

Franz Marc, Das arme Land Tirol, 1913, Solomon R. Guggenheim Museum

Der Schatten der Geschichte:
Balkankriege und Kriegsvorahnung

1913 tobt am Rand Europas der Zweite Balkankrieg. Die Kämpfe sind brutal, die politische Lage instabil. In ganz Europa wächst das Gefühl, dass ein großer Konflikt bevorsteht. Auch Künstler*innen spüren die Unruhe.

Franz Marc greift diese Stimmungen auf – und transformiert sie in kraftvolle, symbolgeladene Bildwelten. In Das arme Land Tirol (1913) zeigt er eine zerschundene Landschaft: abgemagerte Pferde, ein Friedhof, Kreuze, düstere Farben. Am unteren Bildrand ein kleines Grenzschild – ein leiser, aber präziser Verweis auf politische Spannungen und die Fragilität nationaler Räume.

Was wie ein Tirolbild wirkt, ist in Wahrheit eine Metapher für die Zerstörungskraft der Zeit. Das Werk entsteht im selben Jahr wie Das lange gelbe Pferd – beide spiegeln unterschiedliche Reaktionen auf denselben historischen Moment: das eine introvertiert und abstrahierend, das andere düster und konkret.

Abstraktes Gemälde mit lebhaften, kantigen Formen in Gelb, Blau, Violett und Rot. In der Mitte befindet sich ein dunkles Sonnenmotiv, und unten ruhen zwei kleine weiße Häuser in einem grünen Feld, das teilweise von schwarzen Linien verdeckt wird.

Franz Marc, Tirol, 1913/14, Bayerische Staatsgemäldesammlungen – Sammlung Moderne Kunst in der Pinakothek der Moderne München

Tirol – Landschaft als Endzeitvision

Kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs malt Marc ein weiteres Hauptwerk: Tirol. Eine mächtige Gebirgslandschaft, in deren Zentrum sich eine Marienfigur verbirgt. Daneben eine kleine weiße Kapelle, zwei winzige Höfe. Keine Tiere mehr. Stattdessen ein kahler, schwarzer Baum mit sichelförmiger Krone – eine verwandelte Natur, vielleicht sogar eine Waffe.

Die alpine Idylle ist hier zur lebensfeindlichen Kulisse geworden. Die religiösen Symbole, Marienfigur, Kapelle, wirken schutzlos, fast verloren. Dieses Bild, so konstruiert es erscheint, ist durchzogen von Vorahnungen. Es verdichtet eine Welt am Rande des Umbruchs.

 

Vom Erleben zur Einsicht –
Marcs Kriegshoffnung und Desillusion

Wie viele Intellektuelle seiner Zeit glaubt Marc zunächst, der Krieg könne die »erstarrte« bürgerliche Gesellschaft reinigen: eine zerstörerische, aber notwendige Umwälzung. Doch dieser Glaube weicht bald der Ernüchterung. 1916 fällt Marc bei Verdun, tief desillusioniert, zerrieben von der Realität des Krieges, den er einst als schöpferisch empfunden hat.

Die Werke seiner Tirolreise aber bleiben als Dokumente einer künstlerischen wie politischen Schwelle. Sie zeigen nicht nur Natur und Tier, sondern eine Welt, die spürt, dass sie sich grundlegend verändert.